„Autorität hat man nicht, sie wird einem zugesprochen“

08.01.2020
5 Minuten
Lehrerleben

Experteninterview mit Prof. Dr. Roland Reichenbach

Ein Beitrag von Veronika Renkes

Autorität statt Autoritarismus: Prof. Dr. Roland Reichenbach erklärt, wie Lehrkräfte echte Anerkennung gewinnen – und warum Strenge nicht hilft.

Eine Lehrerin steht vor einem Whiteboard und schaut auf ihre SchülerInnen, die sich melden

© Goodboy Picture Company auf GettyImages

Der Begriff „Autorität“ löst bei uns Deutschen oft Unbehagen aus, ist gar verpönt. Warum?

Das hat wohl geschichtliche Gründe und zudem hängt es auch mit gesellschaftlichen Veränderungen zusammen. Mit dem Begriff werden Phänomene verbunden, die nicht dazugehören, wie Zwang, Gewalt oder Machtmissbrauch. So untersuchte der Sozialpsychologe Kurt Lewin 1939 den autoritären Erziehungsstil und sah darin die Gefahr des Faschismus. In den 50er-Jahren beschäftigten sich die Philosophen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer mit der autoritären Persönlichkeit vor dem Hintergrund von Holocaust und Nationalsozialismus. Sie wollten herausfinden, ob diese typisch deutsch sei. Sozialpsychologisch gesehen ist sie das aber sicher nicht. Denn Autorität ist ein Anerkennungsverhältnis. Um sie zu erhalten, müssen keine Zwangsmittel eingesetzt werden. Problematisch – und davon zu unterscheiden – sind allerdings autoritäres Verhalten sowie eine autoritäre Persönlichkeit. Autoritäres Verhalten ist ein Zeichen dafür, dass die Anerkennung nicht mehr vorhanden ist und eine Führungsperson autoritäre Mittel einsetzt, um Disziplin, Ordnung oder Anerkennung wiederzugewinnen.

Wie kann man feststellen, ob man „Autorität“ hat?

Wenn sich zum Beispiel ein Schüler von seinem Lehrer etwas sagen und zeigen oder sich korrigieren lässt, dann ist das ein Ausdruck von Autorität, die der Lehrer vom Schüler zugesprochen erhält. Diese Anerkennung ist aber limitiert, etwa bei einem Arzt, von dem man sich auch nur das sagen lässt, was die Gesundheit betrifft. Das Ziel einer pädagogischen Autorität besteht darin, sich selbst überflüssig zu machen, nämlich dann, wenn etwa das Lernziel erreicht oder ein Kind erwachsen geworden ist oder wenn es sein Verhalten selber steuern kann.

Was ist überhaupt Autorität?

Autorität wirkt in einem asymmetrischen Verhältnis. Wenn jemand akzeptiert, dass jemand anderes ihm in bestimmten Bereichen etwas zu sagen hat, dann übt der andere auf ihn Autorität aus. Die meisten menschlichen Verhältnisse sind im Übrigen von dieser asymmetrischen Art. Das gilt in der Regel auch in Betrieben oder Organisationen. Wir pflegen zwar eine Moral der symmetrischen Kommunikation, bei der alle gleichberechtigt sind und wir etwa von Mitarbeitern sprechen, anstatt von Untergebenen. Im Hintergrund bleibt aber die Asymmetrie der Beziehung bestehen und spielt dort eine bestimmte Rolle. Einfach zu sagen, Autorität wollen wir nicht, deutet also eher auf einen naiven Standpunkt hin. Es ist besser, zu versuchen, das Phänomen der Autorität zu verstehen und zu fragen: Was impliziert es und was bedeutet es für die pädagogische Ethik? Denn wer über mehr Macht und mehr Wissen verfügt, der besitzt auch mehr Verantwortung. Das heißt, er oder sie muss diese Anerkennung von Autorität, diese Zuschreibung, auch verdienen.

Gibt es eine „natürliche“ Autorität?

Sozialpsychologisch und pädagogisch ist das Unsinn. Es gibt auch kein Gen für ein Alphatier oder Betatier und es ist nichts, was in jemandem drin steckt. Die Quellen, warum jemand als Autorität anerkannt wird, können vielfältig sein.

Es kann das Wissen, der Sachverstand oder das Können sein. Oder es hat etwas mit der Persönlichkeit und dem Charisma zu tun. Und dann gibt es noch die Amtsautorität, zum Beispiel die der Lehrer:innen. Autorität ist also nicht irgendein Stil und sie ist immer zeitlich limitiert und auf ganz bestimmte Bereiche beschränkt.

Wie erwirbt man als Lehrperson Autorität?

Eine Lehrerin etwa kann von einem Teil der Schülerschaft als Autorität anerkannt werden und von dem anderen Teil aber nicht. Die Anerkennung hat immer etwas mit der Beziehung zu tun und nicht mit der Person. Denn sonst würde eine Person von allen immer gleich anerkannt oder eben nicht anerkannt werden. Eine Lehrperson braucht in einer Klasse genügend viele Schüler:innen, die sie als Autoritätsperson anerkennen. Dann haben diese Schüler:innen auch Einfluss auf die anderen. Aber die Lehrperson muss die Anerkennung auch verdienen. Das heißt, wenn sich ein Lehrer immer nur negativ gibt und nie zeigt, dass er auch ein bisschen von seinen Schüler:innen abhängt, dann funktioniert das nicht.

Lehrer sollen „Begleiter von Lernprozessen“ sein. Ist auch dafür Autorität nötig?

Offene Lehrformen helfen vor allem den guten und starken Schüler:innen, die eigenverantwortlich und selbstreguliert lernen können. Aber mittelstarke und sogenannte leistungsschwache Schüler:innen werden damit überfordert. Man vergrößert nur die Differenz zwischen den Leistungsschwachen und -starken. Schwächere Schüler:innen brauchen mehr Lenkung, kleinere Schritte, mehr Kontrolle und mehr Zuspruch. Wenn man über Autorität redet, dann sollte man nicht an Macht- und Führungsfiguren denken. Das ist Unsinn. Es sind in erster Linie Eltern und Lehrer:innen, die sich um die Entwicklung ihrer Kinder und Schüler:innen kümmern und denen es nicht egal ist, wohin sie sich entwickeln. Erziehung und Unterricht heißt auch, die Erwartungen an die Schüler:innen sichtbar zu machen, die man damit verbindet.

Warum fällt es manchen Lehrer:innen schwer, sich vor einer Klasse zu behaupten?

Das hat etwas mit sozialen Kompetenzen zu tun. Lehrer:innen können sehr unterschiedlich sein und werden trotzdem als Autorität anerkannt. Diese Anerkennung ist nicht an ein bestimmtes Verhalten gebunden. Lange Zeit hat man geglaubt, dafür sei die Lehrpersönlichkeit verantwortlich. Diese ist dafür zwar wichtig, aber nicht sie allein. Eine oder ein Lehrer:in kann schüchtern und trotzdem ein hervorragender Pädagoge sein. Zum Lehrersein gehört nun mal auch, sich mit seinem Körper vor den Schüler:innen zu exponieren. Das muss man allerdings mögen. Nicht jedem fällt es leicht, sich vor eine Klasse zu stellen und etwas zu zeigen, zu berichten und einzufordern. Wer nur dasteht und nur begleiten oder moderieren will, hat ganz schnell keine Autorität mehr. Die Schüler:innen müssen merken: Der will etwas von uns. Wir müssen ihn nicht mögen, aber wir sind ihm wichtig.

Welche Faktoren begünstigen es, dass eine Lehrkraft Autorität hat?

Vorteilhaft ist es, wenn man als Lehrer:in Sicherheit, Vertrauen und Zuversicht ausstrahlt oder auch, wenn man einen bestimmten Humor an den Tag legt. Wenn man die Schüler:innen mit feiner Ironie, aber eben nicht mit Zynismus, anstachelt und motiviert – nach dem Motto: Jetzt hast du es nicht geschafft, aber beim nächsten Mal klappt es bestimmt, wenn du vorher mal in dein Buch schaust …, dann entsteht ein Bezug; die Lehrkraft kümmert sich um die oder den Schüler:in und erhält dafür die Anerkennung als Autorität. Nur, dieser Bezug ist keine Beziehung. Die oder der Lehrer:in darf auch nicht an einer Beziehung interessiert sein, sondern nur an der Entwicklung der Schülerin oder des Schülers in einer bestimmten Sache. Bei der pädagogischen Beziehung steht die Sache, die gelernt werden soll, zwischen den Beteiligten. Sie bestimmt das Verhältnis.

Welche Konsequenzen hat es, wenn Lehrer:innen „Autorität haben“ mit „autoritär sein“ verwechseln?

Das ist wohl das Schlimmste, was man als Lehrer:in machen kann. Bei der Autorität geht es in Wirklichkeit um Vertrauen. Wenn Lehrer:innen sich so benehmen, dass das Vertrauen nicht mehr aufrechterhalten werden kann, dann will man auch nicht mehr von diesen Lehrer:innen unterrichtet werden. Deshalb sollte vielleicht derjenige, der autoritär ist, keine Lehrkraft werden.

Prof. Dr. Roland Reichenbach ist Ordinarius für Pädagogik und Co-Leiter des Forschungs- und Studienzentrums für Pädagogik an der Universität Basel und der Pädagogischen Hochschule FHNW und Mitherausgeber der „Zeitschrift für Pädagogik“.

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